
Photo: MPTC
In der leichten, rosafarbenen Hülle mit den weißen Punkten landete das rote Abendkleid wieder im All England Club. Der Fundus, in dem es zuhause ist, gehört zu den vielen Besonderheiten des Turniers. Nicht jeder Wimbledonsieger hat das passende Festgewand für das Champions’ Dinner dabei, wenn er in London landet; wer weiß schon, wohin der Weg in den zwei Wochen des Turniers führen wird. Doch die Kostümkammer ist gut bestückt; an die Hundert Abendkleider in gängigen Größen hängen da auf einer langen Stange, passende Schuhe, Gürtel, Taschen und Schmuck liegen bereit. Angelique Kerber brauchte eine ganze Weile, bis sie sich für die knallrote Robe entschieden hatte. „Elegant und schlicht“, wie sie das Kleid beschrieb, „ohne Bling-Bling. Passend zu Wimbledon.“
Der Abend beim Champions’ Dinner in der ehrwürdigen, prächtigen Guildhall in der Stadt gehörte zu den letzten Bildern, die Deutschlands Wimbledonsiegerin mit nach Hause nahm, als sie am Montag für einen kurzen Zwischenstopp bei den Großeltern nach Polen flog. Auf der Festplatte der Erinnerung sind nun auch jene Momente gespeichert, wie sie mit der legendären Siegerschale in den Händen quer durch den Saal zur Bühne schritt. Vorher flimmerte ein kleiner Film über die Leinwand, der ihre ereignisreichen Wochen in SW19 stimmungsvoll zusammenfasste. Gänsehaut pur sei das gewesen, schwärmte sie, und deshalb sei sie beim Weg an den festlich gedeckten Tischen vorbei nervöser gewesen als am Tag zuvor vor dem Finale.
Am liebsten hätte sie die wundervolle Schale mit nach Hause genommen, aber das geht natürlich nicht; das Ding wird ja im nächsten Jahr und im nächsten und im nächsten danach wieder gebraucht. Aber sie kümmerte sich darum, dass sie die Replika in zwei-Drittel-Größe am Abend noch mitnehmen durfte; im Gegensatz zum Gewand, das nun wieder im Fundus verschwand.
Bei Chablis Premier Cru und einem Pinot Noir Jahrgang 2015 aus dem Burgund würdigte der All England Club seine Champions, und ganz vorn am Tisch der prominentesten Sieger war die Stimmung prächtig. Für Angelique Kerber war ja alles neu, Novak Djokovic kannte sich aus; beim letzten seiner drei Titel zuvor, 2015, hatte der All England Club zum ersten Mal in die Guildhall geladen, und obwohl das Dinner ja ein Dinner und kein Ball ist, ließ er es sich wie beim letzten Mal nicht nehmen, auch diesmal mit der Siegerin ein paar Schritte auf die Bühne zu zaubern. „Ich bitte um einen Tanz“, sagte er, Kerber willigte spontan ein, und für 20 Sekunden versuchten sie sich als Paar. Angelique Kerber machte auch dabei eine prima Figur; sie tanze ganz gern, erzählte sie hinterher.
Schwer zu sagen, welches Siegerglück an diesem Abend größer war; sie sahen beide so aus, als ließe sich das nicht mehr steigern. Doch der vierte Titel des Serben nach 2011, ’14 und ’15 war am Ende die größere Überraschung. Vor allem die Art seines Sieges im gigantischen Halbfinale gegen Rafael Nadal lässt Djokovic glauben, jetzt wieder auf dem höchsten Niveau zu sein. Das Spiel, so sagte er, sei der größtmögliche Test gewesen, ob er wieder stark genug sei. „Ich hab alles reingelegt, weil ich wusste, auf kurze als auch auf lange Sicht bedeutet.“ Dem bewundernswerten Kevin Anderson, der mit seiner extrem ehrlichen und sportlichen Art auch in Wimbledon viele Freunde gewann, fehlte im Finale die Kraft für mehr. Gut möglich, dass das Rekordspiel des Südafrikaners gegen John Isner – mit einer Dauer von sechs Stunden und 36 Minuten das längste Halbfinale der Geschichte Wimbledons, unmittelbar gefolgt von Djokovics Sieg gegen Nadal – ein Umdenken der Oberen auslösen und zukünftig in einen Tiebreak im fünften Satz führen wird.
Mit 13 Grand-Slam-Titeln nähert sich der Serbe nach zwei Jahren Krise nun mit großen Schritten dem einst als Maßstab geltenden Zahl von 14, die Pete Sampras einst sammelte, drei hinter Nadal, sechs hinter Federer. Sieht so aus, als habe Novak Djokovic nach einer von allerlei Schwierigkeiten begleiteten lethargischen Phase seine Leidenschaft für das Spiel wieder entdeckt. Mit dem Tänzer wird wieder zu rechnen sein, begleitet vom langjährigen Coach Marian Vajda, dem er beim Dinner noch mal ganz offiziell eine Liebeserklärung machte.
Angelique Kerber hatte ein ganzes Füllhorn schönster Gefühle und Bilder im Gepäck, als sie London am Montag verließ. Philip Brook, der Vorsitzende des All England Clubs, hatte ihr beim Abschied aus der Guildhall den Satz mitgegeben: „Wir sind so stolz auf dich“. Sie freut sich nach einem Termin heute in Stuttgart jetzt erstmal auf ein bisschen Pause, bevor die Reise weitergeht. Rote Abendroben gibt es überall; das ist ein guter Gedanke.
Doris Henkel
Weitere Bilder vom Champions´ Dinner gibt es hier